MEISTER DES FEUERS - ein Morbius/Driessen Krimi

Der brennende Mann kniete auf einem Resopal-Schreibpult. Er hielt die Arme wie Flügel ausgebreitet, als wolle er sich auf der Feuersäule, die ihn umwirbelte, in die Luft erheben. Hinter ihm blähte sich sein Umhang. Das Weiß seiner Zähne leuchtete gespenstisch durch den Qualm.
   Über dem Schwarzweißfoto stand in fetten Buchstaben: SEKTIERER VERBRENNT FÜR JESUS - und etwas kleiner: GRAUSIGER VORFALL AUF PRESSEKONFERENZ. Morbius wickelte den Pizza-Karton aus der fettigen Zeitung. An der Quatro Stagioni kauend, las er mit halbem Interesse weiter.

Ffm/Sachsenhausen - Vor den Augen zahlreicher Pressevertreter verbrannte sich ein 24jähriger in einem Konferenzraum des Holiday Inn-Hotels. Der Angehörige der Frankfurter Sekte 'Es werde Licht' erlag seinen Verletzungen noch auf dem Weg in die Unfallklinik. Ein Hotelsprecher schätzt den Schaden an der Einrichtung auf 50.000 DM.
Die Sekte hatte die internationale Presse zur offiziellen Wiederauferstehung von Jesus Christus geladen. Wie Augenzeugen berichteten, erklärte der 24jährige kurz nach dem Verstreichen des angekündigten Zeitpunkts, der Erlöser sei momentan verhindert, habe ihn jedoch beauftragt, "ein Fanal zu setzen". Bevor jemand eingreifen konnte, überschüttete er sich aus einer mitgebrachten Plastiktüte mit Benzin und setzte sich in Brand.
Der Wiederauferstehungs-Kult hat in den letzten Jahren in Europa und den USA an Popularität gewonnen. Die verschiedenen Sektengruppen treten vor allem dadurch hervor, daß sie in regelmäßigen Abständen das Erscheinen von Jesus Christus ankündigen. Der Erlöser soll sich schon seit Jahren inkognito in einer europäischen Großstadt auf seinen Auftritt vorbereiten ...

Die Zeitung war etwa eine Woche alt. Die Welt steckt voller seltsamer Rätsel, dachte Morbius, und eigentlich müßte es für einen Privatdetektiv ein leichtes sein, damit sein Geld zu verdienen. Er knüllte die Pizzapappe zusammen und warf sie in Richtung Papierkorb.
   Das Büro machte mittlerweile einen ziemlich versifften Eindruck. Seit acht Wochen hatte er keinen Auftrag. Vielleicht waren den Menschen ungelöste Rätsel lieber. Oder es lag an der Konjunktur. Sie lief zu gut. Es gab im Moment anscheinend keinen Bedarf an Sicherheitsanalysen oder Konkursermittlungen. Die einzigen, denen es noch schlechter ging als Detektivbüros, waren vermutlich die Inkasso-Institute.
   Die Zeit war vorbei, in der die Kunden dem Detektiv direkt ins Büro marschierten und ihm die Aufträge brachten. So etwas gab es nur noch im Roman. Ein moderner Privatdetektiv muß selbst akquirieren. Wenn die Fälle nicht zu ihm kommen, muß er sich eben zu ihnen bequemen.

Da war zum Beispiel dieser Sektenfall.

'Es werde Licht' stand sogar im Telefonbuch. Die ersten zwei Ziffern der Nummer ließen auf den Vorort Niederrad schließen. Eine Büro- und Schlafstadt. Morbius zog das rosa Designtelefon zu sich herüber und wählte.
   Es klingelte lange. Im Hintergrund der Leitung waren Störgeräusche zu hören, ein seltsames Summen und Knacken. Draußen vor dem Fenster seines Büros turnten Monteure auf einem Gerüst herum. Sie schraubten Neon-Weihnachtssterne an die Backsteinfassade.
   »Es werde Licht!« verkündete eine salbungsvolle Stimme aus dem Telefonhörer.
   »Morbius, Institut für Information. Den Geschäftsführer, bitte.«
   Es folgte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Morbius' Ansinnen schien seinen Gesprächspartner etwas zu überfordern.
   »Hallo? Sind Sie noch dran?«
   »Dies hier ist eine spirituelle Gemeinschaft«, belehrte ihn die salbungsvolle Stimme nach einer längeren Denkpause.
   »Ja, aber ich habe eine wichtige Nachricht für Ihren Geschäftsführer. Beziehungsweise für Ihren Chef, Meister, Guru, oder wie er sonst heißt.«
   »Worum geht es denn?«
   »Um Jesus Christus.«
   »Wie war Ihr Name?«
   Morbius wiederholte seinen Namen und dazu noch Telefonnummer und Adresse. Er hörte etwas kritzeln. Es klickte. Es summte kurz im Hörer, dann verkündete die ölige Stimme: »Bruder Gabriel wird Sie anhören.«
   »Ich bin mir der Ehre bewußt«, versicherte Morbius. Es klickte wieder. Er lauschte. Es schwieg. »Hallo?«
   »Ja«, sagte eine neue Stimme.
   »Sind Sie Bruder Gabriel?«
   »Der bin ich.«
   Die Stimme klang tief, selbstbewußt, überzeugend. Eine Stimme mit Charisma. Eine Stimme, der man wenig vormachen konnte. Morbius hätte lieber dem Öligen seinen Vorschlag unterbreitet.
   »Ich habe ein interessantes Angebot für Sie, Herr Gabriel. Wie ich der Presse entnehme, hält sich der Erlöser noch im Verborgenen.«
   »Ja«, sagte Bruder Gabriel in indifferentem Tonfall.
   »Obwohl die Menschheit zweifellos dringend seiner Hilfe bedarf.«
   »Ja.«
   »Vielleicht möchte der Erlöser, daß man ihn sucht. Daß man von selbst zu ihm kommt, verstehen Sie? Nun, hier könnten wir Ihnen helfen. Wir sind ein führendes Ermittlungsinstitut, spezialisiert auf Fälle von vermissten Personen. Geben Sie uns ein paar Anhaltspunkte, und wir-«
   »Wenn ich Sie recht verstehe«, sagte Bruder Gabriel, »wollen Sie den Messias suchen. Für Geld.«
   »Wir sind ein professionelles Unternehmen. Natürlich arbeiten wir nicht umsonst. Allerdings können wir hier, da es sich um einen guten Zweck handelt, zu Sonderkonditionen-«
   »Das ist verrückt und blasphemisch. Der Meister wird selbst an die Öffentlichkeit treten, wenn die Zeit gekommen ist.« Klick.
   Morbius zuckte die Achseln. Auch gut. Es war immerhin ein Versuch gewesen.

Als er den Hörer auflegte, flammte grelles weißes Licht vor dem Fenster auf. Die Elektriker hatten es geschafft, den Weihnachtsstern anzuschließen. Morbius' Haustier gab ein verstörtes Zischen von sich.
   »Nur keine Panik«, sagte Morbius zu dem Käfig hinüber. »Kein Grund zur Beunruhigung. Alles unter Kontrolle.«

Das aber sollte sich als großer Irrtum erweisen.

 

Dienstag, 18. Dezember, 14:30 Uhr

Dienstag war Fütterungstag. Morbius' Gecko brauchte seine Wochenration. Das Reptil war eine Sicherheitsleistung: Morbius hatte es vor einem Jahr bei einem zahlungsunfähigen Klienten gepfändet. Die Liebe zum Haustier ist eine starke Emotion, hatte ihm einmal ein professioneller Geldeintreiber erklärt. Jeder Schuldner wird alsbald zahlen, um seinen gepfändeten Liebling zurückzuerhalten.
   »Klassisches Beispiel für eine Fehlkalkulation«, erklärte Morbius dem Gecko, während er einen Beutel Spinnen in den Käfig leerte. Der Gecko blinzelte und ließ seine lange Zunge schnalzen. Zwei der Spinnen verschwanden spurlos.
   »Noch so eine Fehleinschätzung«, sagte Morbius zu dem Gecko. »Du denkst, du fängst dir dein Futter selbst. Dabei verdankst du es nur meiner Großzügigkeit.«
   Der Gecko sah ihn zweifelnd an. Das Telefon klingelte, und Morbius verstaute den Spinnenbeutel hastig in der Schreibtischschublade.
   »Institut für Informationen. Morbius am Apparat. Hallo?«
   »Sie«, behauptete eine schwer atmende Stimme, »Sie haben doch hier angerufen. Nicht wahr? Letzten Monat. Sie sagten, Sie sind Detektiv. Wir haben hier Ihre Telefonnummer.«
   »Wer spricht dort?« Irgendwo in der Leitung meinte Morbius eine Art monotonen Singsang zu vernehmen.
   »Es werde Licht! Bruder Goswami am Apparat. Sie führen Untersuchungen durch? Ich meine, haben Sie Erfahrungen damit?«
    »Untersuchungen«, erwiderte Morbius, »sind unsere Spezialität.« Er beobachtete eine kleine Spinne, die dem Gecko entkommen war. Sie kroch matt über das Drahtgitter des Käfigs.
    »Ich habe gehört, es gibt bei Detektiven eine Schweigepflicht. Heißt das, äh-«
    »Selbstverständlich sichern wir Ihnen volle Diskretion zu. Das ist wie bei der Beichte, Herr Goswami.«
    »Können Sie zu unserem Tempel kommen?«
    »Lassen Sie mich einmal nachsehen. Ja, ich denke, ich kann am Nachmittag einen Termin-«
    »Nein, nein, nein. Sie müssen jetzt gleich kommen.« Die Stimme japste. »Es ist dringend. Es hier vielleicht etwas Schlimmes passiert.«
    »Geben Sie mir erst einmal Ihre Adresse.« Morbius notierte die Straße auf der Schreibunterlage. Die Spinne war mittlerweile am Käfigrand angelangt. Vor ihr ging es anderthalb Meter hinab auf den genoppten Linoleumboden von Morbius' Büro. Sie hielt inne. Der Gecko betrachtete sie mit seinem rechten Auge. »Niederrad, richtig? Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen.« Die Spinne machte kehrt und krabbelte wieder zurück.
    »Ja. Ja. Das ist gut. Äh, haben Sie so ein Ding - ich weiß nicht, wie das heißt - mit dem man ein Türschloß aufbekommt?«
    »Meinen Sie ein Brecheisen? Worum geht es denn überhaupt?«
    »Bruder Gabriel macht seine Tür nicht mehr auf.«
    »Wie bitte?«
    »Er hat sich eingeschlossen. Er antwortet nicht. Und dann ist da so ein Geruch.«
    »Ein Geruch?«
    »Ja. So ein komischer Geruch.«
    »Das hört sich nicht gut an. Haben Sie schon einen Schlosser gerufen?«
    »Einen Schlosser?«
    »Ja, Herr Goswami. In der profanen Welt ruft man einen Schlosser, um versperrte Türen aufzubekommen.«
    »Ich weiß nicht, ob uns ein Schlosser helfen kann«, flüsterte Goswami. »Dieser Geruch ist wirklich eigenartig. Es ist wie ... ich weiß nicht ... ich glaube, unser Tempel ist vom Bösen heimgesucht worden.«
    Die Spinne fiel zwischen zwei Gitterdrähten hindurch dem Gecko vor die Vorderklauen. Der Gecko schnalzte. Die Spinne verschwand, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

weiter...