Downtown - ein Morbius/Driessen Krimi
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Rom hat sieben Hügel - Frankfurt nur einen. Eingedenk dieses Ungleichverhältnisses heißt Frankfurts Hügel immerhin ›Römerberg‹. Hier tobt die Entscheidungsschlacht zwischen den vier Baustilen der Stadt. Die Westbebauung des Römerbergs besteht aus nachgebildeten Fachwerkhäusern im Disneyland-Stil, in denen neben Touristenkaschemmen auch die Stadtverwaltung residiert. Verspielte Postmoderne herrscht auf der Südseite mit der Schirn-Kunsthalle und der edelsanierten Domstraße, dem Ort Harry Nagels gewaltsamen Ablebens. Das Technische Rathaus im Norden verbreitet die Beton-Brutalität der frühen 70er Jahre, während der Osten vom Domplatz und dem mittelalterlichen Dom beherrscht wird. In den verwinkelten Straßen dahinter lag Driessens Stammkneipe - aber Morbius kannte sich in dieser Gegend nicht genau aus, er kam selten hierher.
Wenigstens war der Dom nicht zu verfehlen. Und da es schon nach achtzehn Uhr
war, mußte er für die Turmbesteigung auch keinen Eintritt bezahlen. Nach dreihundertachtundzwanzig
Stufen machten sich die vier Glas billigen Sekts, die er auf der Pressekonferenz
getrunken hatte, durch heftiges Sodbrennen bemerkbar. Eine kleine Eisentür,
die offenstand, führte von der äußeren Wendeltreppe auf eine Plattform ins Turminnere.
Von dort kamen Stimmen. Der Turm war innen nicht in Stockwerke unterteilt. Eisenträger
bildeten in dem offenen Schacht ein Gitterwerk aus unregelmäßigen Winkeln. Das
Gewirr von Plattformen, Leitern, Stangen und Trägern wurde von den Lichtstreifen,
die von weit oben durch die Metall-Lamellen der Schallöcher einfielen, nur spärlich
erhellt. Die Stimmen kamen von oben.
Als Morbius hochblickte, sah er über sich eine der gewaltigen
Glocken, die fast die halbe Breite des Turms einnahm. Der spitz zulaufende Klöppel
hing in der Mitte wie eine Zunge aus einem Riesenmaul. Noch ein Stück höher,
innen vor einem der hohen, schmalen Schallöcher, entdeckte Morbius zwei kleine
Gestalten auf einer Gitterplattform. Sie waren anscheinend in eine Diskussion
vertieft.
Morbius
betrachtete die wenig vertrauenerweckende Eisenleiter, die am Trägerwerk hochführte.
Da kein Zeichen andeutete, daß die Gestalten dort oben bald hinunterkommen
würden,
mußte er wohl zu ihnen heraufsteigen.
Er seufzte und trat auf die unterste Sprosse. Die Leiter
zitterte leicht unter seinem Gewicht, und aus den Befestigungszapfen rieselte
feiner
Roststaub.
Kabelstränge
liefen an der unverputzten Wand empor. Zwischen dem mattglänzenden Glockenkörper
und der Leiter war vielleicht ein Meter Platz, und Morbius hoffte, daß nicht
gerade in den nächsten Minuten das Abendläuten fällig war. Er kletterte an
zwei rostigen Plattformen vorbei, passierte eine etwas kleinere Glocke und
danach
eines der großen Zahnräder, die den Glockenbalken antreiben. Dann war er nah
genug, um das Gespräch verstehen zu können. Er hielt inne.
"Was Sie da sehen, Zindler, nennt man partielles Chaos." Die Stimme klang überzeugt
und geschmeidig; eine Stimme, die lange Monologe zu halten gewohnt war. Durch
den Gitterrost konnte Morbius die beiden Männer beobachten. Der Besitzer der
monologgewohnten Stimme, offensichtlich jener Professor Stahl, trug eine metallgefaßte
Brille und einen taubengrauen Anzug Driessens Preisklasse. Zindler war einen
Kopf kleiner, etwas beleibt, mit Doppelkinn und roten Apfelbäckchen. Eine karierte
Fliege schnürte seinen Hals ein, und sein Jackett hatte ein paar Roststreifen
abbekommen.
"Sehen Sie", fuhr Professor Stahl fort, "wie sich die Menschen durch
die
Straßen
bewegen? Nehmen Sie sich mal einen. Verfolgen Sie seinen Weg. Merken Sie, wie
er zögert, den Bürgersteig wechselt und stehenbleibt? Der Blick findet keinen
Halt, den Schritten stehen zu viele Richtungen offen. Hier fehlt der feste
Bezugspunkt.
Chaos in der Architektur überträgt sich auf die Gedanken der Menschen."
Zindler wischte sich mit einem Papiertaschentuch über den
Nacken. "Meinen
Sie nicht, daß das sehr theoretisch ist? Ich verstehe Ihren Hang zum planerischen
Ideal, aber wir müssen auch praktische Gesichtspunkte im Auge behalten. Ein
U-Bahn-Tunnel durch Lößboden ist nun mal kostengünstiger als durch Granit.
Wir planen für die Bürger, nicht für die Architekten."
"Planen für die Bürger - ein guter Satz, ein politischer Satz",
sagte Professor Stahl. Er wandte sich um und begegnete Morbius' Blick, der hastig
die
letzten
Sprossen hinaufkletterte.
"Entschuldigen Sie die Störung", sagte Morbius etwas atemlos, während
er von der Leiter herübertrat. Er sah starr nach vorn; neben seinen Füßen gähnten
sechzig Meter Tiefe.
"Gewiß doch", erwiderte der Professor. "Kommen Sie nur. Hier haben
wir
nun einen Bürger, Zindler, einen Ihrer Wähler, für die wir die Stadt planen.
Schauen Sie dort aus dem Fenster, junger Mann. Was sehen Sie?"
"Einen Kirchturm", sagte Morbius verblüfft. "Ich wollte eigentlich-"
"Das ist die Dreikönigskirche jenseits des Mains. Sie korrespondiert
mit
dem Dom und schafft eine Nord-Süd-Achse quer über den Fluß. Nun stellen Sie sich
hier an das Westfenster. Was sehen Sie jetzt?"
"Viele Hochhäuser", erwiderte Morbius, nachdem er mit weichen Knien
die
zwei Meter auf dem geländerlosen Gitter zurückgelegt hatte, wobei er sich an
der Wand festhielt.
"Richtig. Die gläsernen Pfeiler der Geldinstitute, der Stützen unserer
Stadt. Sehen Sie links diese Mischung aus Panzerkreuzer Potemkin und Raumschiff
Orion?
Das ist der Turm der Dresdner Bank. Und nun kommen Sie herüber zum Ostfenster.
Schauen Sie nicht nach unten, wenn Sie sich unwohl fühlen - einfach nur
geradeaus. Was sehen Sie?"
"Gar nichts." Morbius wurde das Spiel allmählich zu dumm.
"Eben. Wir sind hier auf dem Römerberg, dem dynamischen Zentrum
des Stadtbilds. Die Nord-Süd Achse verläuft hier durch und setzt sich über den
Henninger Turm im Süden fort. Westlich der Achse erhebt sich das Pfeilergebirge
der Banken, ein massives Schwergewicht, die Konzentration der Geld- und Lebensadern.
Und
östlich der Achse? Gar nichts, wie Sie so treffend bemerkten. Frankfurt ist
im Ungleichgewicht. Sehen Sie, Herr Zindler, das ist dem jungen Mann sofort
aufgefallen. Und das gleiche gilt auch für die Verkehrsströme. Setzen wir
den U-Bahn-Tunnel im Osten an der Konstablerwache an, können wir ein Gegengewicht
schaffen. Setzen wir ihn aber am Römerberg an, sparen wir zwar Geld, aber
dafür
rutscht uns die Stadt nach Westen weg."
"Das wäre sicher schlimm", sagte Morbius, "aber falls Sie gestatten,
ich
bräuchte
nur ein paar Auskünfte von Ihnen, Herr Dr. Zindler. Es dauert nicht lange,
ich bin sofort wieder weg. Ihre Sekretärin sagte mir, wo Sie zu finden seien."
"Sind Sie von der Presse?" fragte Zindler.
"Nein. Mein Name ist Morbius, Ermittlungsbüro. Es sind kurzfristig
noch
ein paar Fragen aufgetaucht."
"Es geht um Harry Nagel, nehme ich an? Ich habe nachher mit Herrn
Driessen
einen Termin."
"Ich glaube, der junge Mann ist nicht von der Polizei", sagte Stahl,
während
er seine Brille abnahm und die Gläser betrachtete. "Für Beamte ist saloppe
Kleidung im Dienst unüblich - es sei denn, Sie wären verdeckter Ermittler?" Dabei
zog er ein Seidentuch aus der Brusttasche und polierte die Brillengläser sorgfältig.
"Ich arbeite für ein privates Ermittlungsinsitut. Es geht nicht
um den
Todesfall Nagel, sondern um Ihren im März verstorbenen Kollegen Dr. Backe", erläuterte
Morbius.
Stahl prüfte die Gläser, bevor er die Brille wieder aufsetzte. "Das
ist interessant. Vermuten Sie einen Zusammenhang? Fragen Sie ruhig, junger Mann.
Wer weiß, was
Sie noch alles aufdecken. Leider muß ich Sie jetzt allein lassen - ein weiterer
Termin. Wir sind ja soweit fertig. Zindler, ich hoffe, ich habe zu Ihren
Kenntnissen
des dynamischen Stadtbilds ein wenig beitragen können. Die neuen Bodengutachten
werden nächste Woche vorliegen, aber die Ergebnisse werden die alten sein."
"Ja", sagte Zindler. "Die endgültige Entscheidung wird in einer
der nächsten
Sitzungen fallen. Wann die ist, steht noch nicht fest. Wir brauchen ja auch
noch einen Nachfolger für Harry Nagel."
"Ich bin zuversichtlich, daß Sie den richtigen finden werden." Damit
schwang Professor Stahl sich auf die Leiter und begann rasch und geschickt hinunterzuklettern.
"Wie haben Sie von dem Todesfall erfahren?", fragte Morbius.
"Herr Driessen hat unser Büro telefonisch informiert. Harry Nagels
Tod
ist ein schwerer Schlag für uns alle. Nicht nur für die CDU-Fraktion. Falls es
sich nicht um einen Unfall halten sollte, was ja noch nicht feststeht, so werden
wir natürlich helfen, wo wir können, damit der Täter rasch gefaßt wird.
Aber ich weiß immer noch nicht, in wessen Auftrag Sie ermitteln."
"In privatem Auftrag. Ich kann natürlich die Namen unserer Klienten
nicht
preisgeben."
Zindler zuckte die Achseln. "Gut, dann stellen Sie meinetwegen
Ihre Fragen, aber machen Sie es kurz."
"Ganz kurz, Herr Zindler. Wie gut haben Sie Dr. Backe gekannt?"
"Nicht sehr gut. Er war ebenfalls Mitglied im Planungsausschuß,
aber privat hatten wir wenig miteinander zu tun. Er war ein eher zurückhaltender
Mensch, ganz im Gegensatz zu Harry Nagel."
"Wissen Sie, ob er sich bedroht fühlte?"
"Nein. Kommen Sie, wir steigen wieder hinunter. Sie können Ihre
Fragen
auch unterwegs stellen."
"Könnten Sie sich vorstellen", fragte Morbius, während er hinter
dem Stadtverordneten die Leiter hinabkletterte, "daß Dr. Backe in zwielichtige
Sachen verwickelt war? Ich meine mit Baufirmen, beispielsweise?"
"Oho!" Zindler lachte. "Daher weht also der Wind. Sie sind auf der
falschen Fährte, junger Mann." Er trat von der Leiter auf eine tiefere Plattform
und blickte zu Morbius hoch. "Der Planungsausschuß vergibt keine Aufträge. Das
ist Sache der Stadtverwaltung. Außerdem war Dr. Backe absolut korrekt. Er
hat sich meist für die kostengünstigsten Bauvarianten eingesetzt. Er war
vorsichtig und sparsam, gehörte zu unserer Schotten-Fraktion. Achtung, nicht
anfassen!" Neben
der Leiter lief ein dickes, messingglänzendes Rohr quer durch den Turm
und verschwand in der Wand. Morbius hatte sich beim Klettern darauf gestützt. "Sie
wollen doch nicht die Turmuhr anhalten? Das gelingt Ihnen nicht - der
Motor hat fast zehn
PS. Das da ist die Zeigerachse. Das Uhrwerk ist vor zwei Jahren überholt
worden, bei der Rekonstruktion des Glockenstuhls."
"Interessant", sagte Morbius. "Mit was für einem Projekt war Dr.
Backe
zuletzt befaßt?"
"Mit den gleichen Projekten wie alle anderen. Ausschußmitglieder
können
sich nicht auf Lieblingsprojekte spezialisieren, wir müssen uns leider um alles
kümmern.
Der Planungsauschuß befaßt sich im Moment neben der Südverbindung mit fünf
anderen Projekten, darunter auch der ewig herausgeschobenen Untertunnelung
des Alleenrings.
Die müssen wir nun auch allmählich angehen." Zindler duckte sich unter
der Zeigerachse hindurch und kletterte auf eine tiefere Plattform ohne
Geländer, die wie ein
Schwalbennest an der Mauer hing. Jetzt, da Professor Stahl in den Tiefen
des Turms verschwunden war, wirkte Zindler leutseliger, als sei ein Druck
von ihm
genommen.
Während Morbius sich mit zusammengebissenen Zähnen an der Wand entlangtastete,
sah Zindler auf seine Armbanduhr. "Vier vor sieben. Klettern wir jetzt lieber
nicht weiter, die Glocke schlägt nämlich jeden Moment. Dann stecken Sie sich
besser die Finger in die Ohren. Oder Sie halten den Kopf an die frische Luft.
Von hier aus haben Sie eine gigantische Aussicht direkt auf den Domplatz."
Er bückte sich und entriegelte eine Eisenklappe an der Turmmauer.
Die Klappe ließ sich nach innen schwenken. Sie war an der Außenseite weiß bemalt.
Dahinter befand sich ein rundes Loch in der Turmmauer. Morbius sah Dächer und
einen Teil des Himmels. Die Mauer war etwa zehn Zentimeter dick, und um mehr
sehen zu können,
mußte man sich weit hindurchlehnen - Morbius verzichtete.
"Das ist nur was für Schwindelfreie", lachte Zindler, "und zu gewissen
Zeiten sollten Sie hier besser nicht den Kopf durchstecken. Das ist nämlich das
Zifferblatt, und immer um halb wandert der Minutenzeiger außen an dieser Luke
vorbei. Von hier aus wird das Zifferblatt gereinigt."
"Wirklich faszinierend", sagte Morbius. "Hatte Dr. Backe Gegner
oder Feinde?"
"Aber natürlich." Zindler beugte sich in die Öffnung hinein, seine
Schultern paßten gerade durch das Loch. "Die ganze SPD-Fraktion. Und die Grünen.
So ist das nun mal in der Politik. Abgesehen davon hatte er sicher keine persönlichen
Feinde. Wie ich schon sagte, er war eher vorsichtig."
Morbius mußte sich bücken, um Zindler besser verstehen zu
können.
Draußen
pfiff der Wind und ließ einen losen Metallgegenstand rattern. "Was ist mit
Freunden? Mit welchen Kollegen im Stadtparlament war Dr. Backe näher bekannt?"
"Was haben Sie gesagt? Ich kann Sie schlecht verstehen. Da unten
kommt
gerade Stahl aus der Tür." Zindler schob sich noch ein Stück weiter in die Öffnung.
"Er hat vorhin über die Wege der Menschen in der Stadt theoretisiert - jetzt
bin ich mal gespannt, welchen Weg er selbst wählt. Aha, der Fürst ist auch
da. Das war also Stahls Termin. Nanu? Verdammt!" Er rutschte etwas zurück,
und seine Hände klammerten sich plötzlich um den Rand der Öffnung.
"Was ist los, Herr Dr. Zindler?"
"Da ist etwas auf meinem Hals. Ich glaube ... ich glaube, ich kann
meinen
Kopf nicht mehr zurückziehen." Er versuchte, sich von der Wand abzustoßen. Seine
Füße trampelten hilflos auf dem Gitterboden. Es gelang ihm, den Oberkörper
halb zu drehen. "Mein Gott, was ist da los? Das ist der Minutenzeiger. Um
Gottes willen, ich kann mich nicht bewegen!"
"Bleiben Sie ruhig. Sind Sie von dem Zeiger eingeklemmt?"
"Ja, ja! Helfen Sie mir!"
Morbius packte den Stadtverordneten am Gürtel und versuchte,
ihn
in den Turm zu ziehen. Es ging nicht.
"Halten Sie die Uhr an!" schrie Zindler. "Halten Sie die Uhr an!
Schnell!"
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